, Schneider, Erhard

"... und was macht das aus mir? Ein persönlicher Bericht über das Wirken einer Berufswahl.“

Auszug: Was wurde ich durch dapo, PSO und WPO?

Als ich mich in das neue Feld onkologischer Reha hineinbegeben habe, habe ich mich selbstverständlich darum bemüht, zu Menschen gehen zu können, die das schon konnten. Der Zufall wollte es, dass ich bei einem Analytiker aus Heidelberg gelandet war, der mich auf die dortige Psychoonkologie mit Reinhold Schwarz aufmerksam gemacht hatte. Ich weiß nicht mehr, wann genau ich in einem der Heidelberger Seminare ihn zum ersten Mal dort gesehen habe. Der Kontakt zu Reinhold Schwarz führte jedenfalls zu einer engen Anbindung an sein Heidelberger Institut, zuerst als Lernender, später auch mal als Referent.
Zuerst kam es aber zu meiner ersten unvergesslichen Begegnung auf der 3. dapo-Jahrestagung. im November 1985 in Bad Karlshafen, meiner ersten. Dort vergingen mir Hören und Sehen; der Vorstand lag in offenem Streit um den künftigen Kurs: Psychosomatische Krankheits­theorien bis zur Krebspersön­lichkeit versus wissenschaftlich fundierte kritische Distanz zuall diesen Dingen. In der Tat musste ich mir allmählich selbst durch Literatur und Diskutieren in alle Richtungeneinen eigenen Standpunkt dazu erarbeiten. Ich kann heute sagen, ich musste durch Kübler-Ross, Simonton und Le Shan durchgehen, und auch die kritische Literatur, die es dazu gab, erst einmal rezipieren. Ich kann nicht vergessen, um auf die Tagung 1985 zurückzukommen, wie mehrere Vorstandsmitglieder, einerzusammen mit seinem großen Hund, laut schimpfend das Podium räumten. Ich weiß nicht mehr, ob Gabriele Blettner damals schon Vorsitzende war, Almut Sellschopp war auf jeden Fall in einer Vorstands-Funktion noch dabei. Da war sie, meine 68-er-Generation, die dort tumultuös ihre Konflikte austrug. In welchen Verein war ich denn da geraten?

Meine Irritation trat dann auf derselben Tagung etwas in den Hintergrund, als sich mir im Workshop die Gelegenheit bot, mein noch frisch ausgedachtes Reha-Behandlungs-Konzept, das schon angelaufen war, in einer Arbeitsgruppe zu präsentieren und ein Feedback dazu zu erhalten. Ich bekam zu spüren, dass ich auf einem rechten Weg war. Der Vortrag, den Klaus Gerdes (Sturz aus der normalen Wirklichkeit) auf der Tagung vorher gehalten hatte, hatte bei mir richtig eingeschlagen und mich nachhaltig beschäftigt. Gabriele Blettner und Reinhold Schwarz bin ich erst 1986 auf einem Deutschen Krebskongress (Hauptthema war die Prävention) in Rechts der Isar in München persönlich begegnet. Nochmal später, im Jahr 1987, kam ich zu einem Meeting auf der Reisensburg bei Günzburg, wo es um Reha­forschung ging, die ich zur Fatigue anschieben wollte und lernte dabei Klaus Gerdes,  Peter Herschbach und Gerhard Strittmatter kennen, die die dapo mit gegründet hatten. Später habe ich Monika Keller getroffen und alle anderen MitstreiterInnen - Koen Behets, Susanne Wittorf und Antje Dahmen -, die mit mir 1995 in den dapo-Vorstand gegangen sind. Zu Antje muss ich unbedingt anfügen, dass die Gruppe mit ihren Patientinnen auf Mallorca – damals nur als begleitender Arzt – zu einer meiner einprägendsten Erfahrungen gehört.

Einige Persönlichkeiten aus den dapo-Jahren davor möchte ich erwähnen, weil sie heute nicht mehr unter uns sind, mich aber nachhaltig beeinflusst haben, stellvertretend für die vielen anderen, die ich hier nennen müsste: Gertfried Schweikhart von der DKD in Wiesbaden, Harald Themel, ein Urbayer aus Schliersee auf dem Chefsessel einer onkologischen Klinik in Karlsruhe, und  Hubert Drepper, der uns an seiner seiner Entscheidung gegen eine Lebertransplantation hat teilnehmen lassen, und natürlich Reinhold Schwarz, der der Ausgleich in Person war. Ein besonderes Andenken gilt meinem Kollegen Christoph Egger-Büssing, den einige der hier Anwesenden doch auch noch erleben durften.

Ich fahre fort. Es kam der Mauerfall, die Wende und die Hoffnung auf eine rasche Kontaktaufnahme mit Kolleginnen aus dem Osten, was nur vereinzelt glückte. Als ich 1995 dapo-Vorsitzender wurde, war die von mir und vielen anderen als unglücklich empfunden Trennung von der PSO aus der dapo heraus längst vollzogen. So schwer und schmerzhaft der Prozess war, es musste ein Weg gefunden werden, den schließlich Gerhard Strittmatter gewiesen hat: mit der Sozialarbeit zusammen eine Arbeitsgemeinschaft unabhängig von der DKG, auf eigenen Beinen, fortzuführen, die zwar der Wissenschaft verpflichtet bleibt, aber den Praktikern, die für ihre Belange und Nöte hierfür eine Heimat suchen, denen ich mich zugehörig fühle, auch eine solche zu bieten. Ich half damals, der dapo die Bezeichnung Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Onkologie zu geben, damit die PSO die Psychoonkologie klarer im Namen führen durfte. Ich half, den Wölte-Preis in der dapo zu verankern. Das gemeinsame Projekt der Weiterbildung, die WPO, die in enger Zusammenarbeit mit der PSO aufgesetzt worden war, konnte gut ausgebaut werden, für mich persönlich verbunden mit der Aufgabe, 2 Seminarblöcke interdisziplinärer Kurse im Allgäu zu gestalten. Was ich dort erlebt habe, war eine große Bereicherung durch Referenten und TeilnehmerInnen, aber nicht immer. Glück und Elend lagen oft nahe beieinander. Ich beneide niemanden, der in der heutigen Zeit organisieren und vielleicht manchmal so aufregend improvisieren muss, wenn der Referent im Zug stecken bleibt. Nicht verschwiegen werden soll, dass ein dapo-Vorsitz, auch wenn er „nur“ ehrenamtlich ist – oder vielleicht auch deswegen, auch Schrammen hinterlässt, die damit zu tun haben, dass man sich vor manchen Karren eben nicht spannen lässt.
Dennoch: Ganz wichtig waren die Jahrestagungen, wichtig war für mich, den somatischen Aspekt unserer Arbeit zu betonen, ganz wichtig war die dapo-Zukunftswerkstatt 1997 bei Rudolstadt, auf der sich das PO-Basisdokumentationsprojekt herauskristallisiert hat. Dies hat meinen Blick auf viele Interventionen stark beeinflusst, weil ich mir für substanziell und selbstverständlich erachtete Begriffe wie z.B. „Abwehr“ aus wissenschaftlichen Gründen aus dem Kopf schlagen musste und andere viel konkretere Begrifflichkeiten aus der VT lernen musste. Peter Herschbach bin ich sehr verbunden, weil er in seiner nüchternen Art die Dinge auf den Punkt bringen konnte, genauso wie Klaus, Klaus Röttger, dessen Reservoir an Witzen für mehr als nur den einen Abend gereicht hätte. Wir lagen am Ende alle mehr oder weniger unter dem Tisch, weil wir vor Lachen nicht mehr konnten. Aber er war natürlich ein ganz hervorragender Psychoonkologe, der ein Lehrbuch für Pflegekräfte verfasst hat.

Der Beitrag der PoBaDo wie auch des Screenings mit Hilfe des Hornheider Fragebogens von Gerhard Strittmatter zur Ernüchterung und Distanzierung in der psychoonkologischen Tätigkeit kann nicht überschätzt werden. Es half, das Erstgespräch so zu gestalten, dass man noch im Vorraum bleibt, von denen aus der Patient aber die offenen Türen schon sehen kann. Ich habe dadurch das Erstinterview mit den diagnostischen Fragen daraus gestaltet und konnte später (als Niedergelassener) den zuweisenden Ärzten eine strukturierte Rückmeldung geben, gleichzeitig den PatientInnen das Gefühl eines umfassenden Interesses vermitteln konnte, welches ohne Scham auszulösen auch Sexualität und finanzielle Schieflagen zu erfassen in der Lage ist. Es gibt den PatientInnen auch Zeit, sich zu überlegen, worüber sie sprechen und vor allem worüber sie nicht sprechen wollen, es entsteht ein Gefühl, dass der Therapeut für alle Belange offen ist -  und es hilft Betroffenen, eine Außenposition einzunehmen, mit Hilfe derer sie selbst Abstand zum tiefen Tal des Leidens bekommen können und vor zu starker eigener Regression geschützt werden können.

Auf der Seite meiner Therapeuten-Identität kann ich gar nicht aufzählen, was ich von den jährlichen Weiterbildungen der Lindauer Therapiewochen mitgenommen habe. Ich kann mich aber noch sehr gut an ein Seminar mit Selbsterfahrung zum Thema der eigenen Vergänglichkeit erinnern, die mir für diese eine Woche den Boden unter den Füßen weggezogen hat, wo ich Lindau in dieser Woche verschwommen unterm Tränenschleier wahrgenommen habe, was mich dann aber doch in einem positiven Sinn „aufgeschlossen“ hat, wieder sensibilisiert und die Solidarität als Sterblicher unter Sterblichen reaktiviert hat. Trotzdem gilt für mich nach wie vor das, was vor kurzem Monika Helfer, eine Vorarlberger Schriftstellerin, die den Tod ihrer Tochter verkraften muss in einem Interview sagte: „Ich habe mal gesagt, dass ich mich mit dem Tod anfreunden will. Doch das ist Blödsinn, das kann man nicht“.[i]

Am Ende dieses Kapitels war aus dem Einzelkämpfer, der ich anfangs ganz gewiss war, ein Vernetzter geworden, ein  Bundesgenosse, ein Mitstreiter, ein Mitwirkender, Mitglied einer Gemeinschaft, die an sich und für andere zu arbeiten imstande ist, ein Psychoonkologe, der nimmt und gibt und ein Feld hat, in welchem er aus der Ohnmacht heraus ins Tätigwerden kommen konnte.I ch habe das System der Medizin, dem wir unsere Empathie, unsere Sensibilität und unsere Fähigkeit zu halten zur Verfügung stellen, immer hinterfragt, aber es macht doch einen gewaltigen Unterschied, ob man das als Einzelner oder in einer Gemeinschaft tut. Und braucht uns das System nicht heute genauso, oder eher mehr?


[i] Monika Helfer: Interview mit der Süddeutschen Zeitung online am 25.01.2022
https://www.sueddeutsche.de/kultur/monika-helfer-literatur-loewenherz-hanser-interview-1.5514802?
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